Kreatur

Die Kreatur

Erschrocken schlug Jimmy die linke Hand vor den Mund. Mit der rechten tastete er langsam hinter sich, um zu klären, ob er freien Rückzug hatte. Er wusste nicht, ob er Tom um Hilfe rufen, laut losbrüllen oder heulen sollte. Heulen kam nicht infrage, er war ja kein Mädchen. Jimmy schüttelte kaum merklich den Kopf, und folgte dabei mehr einem Vibrieren als einer sichtbaren Bewegung, er konnte nicht glauben, was er da sah! Und er wollte es auch nicht, er wollte nichts damit zu tun haben, das hier war nicht seine Show, sollten die Clarksons sehen, wie sie aus dem Schalmassel rauskamen, er, Jimmy, mischte da nicht mit.

Er wollte sich aus dem Staub machen, so wie immer, wenn eine Sache nicht lief, wollte nur weg von hier, Land gewinnen. Doch er konnte nicht. Starr vor Schreck blieb er stehen, Auge in Auge mit dem – nun ja – Tier? Es war genau vor ihm, ein kleines Stück nur trennte die beiden, ein viel zu kleines, wie Jimmy fand, drei Meter höchstens. Das Vieh belauerte Jimmy, es stand auf seinen Hinterbeinen und fixierte ihn aus blutunterlaufenen Augen. Dabei stieß es ein heiseres Röcheln aus. Es war eine hässliche Mischung aus Ameisenbär und Riesenhyäne, mit einer Prise Godzilla im Tank. Das gelbbraune Fell stand in zottigen Wirbeln vom schiefen Kopf ab, seine Vorderläufe hielt es in Brusthöhe dicht am Körper, die Ohren waren angelegt, die Krallen ausgefahren, bereit anzugreifen.

Jimmy wusste, dass er nur eine Chance hatte. Er musste schnell handeln, und der Hieb musste sitzen. Zugegeben, er war forsch im Umgang mit anderen Jungs und cool, wenn Mädchen dabei waren. Aber DAS hier war etwas anderes. Keine Show, nur das Monster und er. Ein 17jähriger Angeber und eine unbekannte Kreatur. Jimmy bekam etwas Glattes zu fassen, den Stiel eines Spatens oder so. Er hielt Blickkontakt mit dem Vieh, während er sich unmerklich rückwärts bewegte. Doch in dem Maß, wie er nach hinten auswich, rückte sein Gegenüber nach. Als Jimmy den Spaten fest in der Hand zu haben meinte, machte er eine Rumba-Bewegung mit den Hüften, als wolle er tanzen. Er schlenkerte vor dem Vieh herum, verdrehte die Augen und schrie: „Na du hübsches Kind, auf zum Tänzchen! Komm doch her, meine Prinzessin!“

Sein Plan ging auf. Wütend fauchte das Vieh und sprang auf Jimmy zu. Der Junge holte die Mistgabel hinter seinem Rücken hervor und rammte sie dem Vieh in die Kehle.  Die Wucht des Körpers riss ihn mit zu Boden. Im letzten Moment konnte Jimmy zur Seite rollen, um nicht unter dem Koloss begraben zu werden. Das Vieh war noch nicht tot. Sein Röcheln hatte sich verstärkt, ein Schwall Blut schoss aus der Wunde. Auch wenn es noch am Leben war, so sah Jimmy doch, dass er das Monster ernsthaft verletzt hatte. Er rollte sich einige Meter weg, und  schaute aus sicherer Entfernung zum Kampfplatz.

Doch was war das? Aus dem Röcheln wurde ein Schluchzen. Vorsichtig pirschte sich Jimmy an das Vieh heran. Als er nahe genug war, drehte es sich zu ihm. Zu seinem größten Erstaunen floss aus der Wunde am Hals grünes Blut. Das Blut war grün, nicht rot! Und auch die Schnauze hatte sich verändert, so kam es Jimmy jedenfalls vor, war kleiner und runder geworden, und das Fell glatter. Es ist wahr, was du siehst, sagte die Kreatur mit unerwartet weicher Stimme, du erlöst mich von meinem Schicksal. Der Tod ist nicht das Ende, Fremder.

Mit einem Seufzer hauchte die Kreatur ihr Leben aus. Jimmy kauerte an ihrer Seite und wusste nicht, was er glauben sollte. (…)     

logo_dummy

 

©Jana Sittnick 2012