Meisen vor Müllers Fenster
Wohnen in Berlin: Der Elfenforscher Wolfgang Müller und sein Vogel-Nistkasten in Kreuzberg
Blaumeisen leben in freier Natur, Elfen in großen Steinen, Trolle in Bäumen – Wolfgang Müller lebt in einer Wohnung in Kreuzberg. Die ist mit fünfundvierzig Quadratmetern nicht gerade ein Tanzpalast, „dafür aber billig“. Wer den kleinen Flur betritt, wendet sich sofort nach rechts, zum Licht. „In der Küche scheint den ganzen Tag lang die Sonne“, sagt Wolfgang Müller, „hier trinke ich Kaffee und hier lese ich. Wenn ich Zeit habe.“
Das passiert allerdings nicht so oft, denn Müller ist ein viel beschäftigter Mann – Künstler, Privatgelehrter, Elfenexperte. Und ein großer Freund der Blaumeisen. Müller mag die Blaumeisen, weil sie hübsch sind, singen können und man sich nicht um sie kümmern muss: „Die suchen sich ihr Futter selbst.“ An der Häuserfassade vor dem Fenster hat er einen Nistkasten angebracht. Die Vögel danken s ihm, „die kommen schon seit fünfzehn Jahren hierher“. Die Blaumeise, so der Hobby-Ornithologe, gehöre zu den schönsten Sing- und Kleinvögeln, und gelehrig sei sie auch. “
In England haben sie es mal geschafft, die Stanniolkappen der Milchflaschen aufzupicken, die der Milchmann morgens vor die Haustüren stellt. Ein Jahr später soll das bis rauf nach Schottland beobachtet worden sein. Der Trick hatte sich wohl unter den Vögeln rumgesprochen “ Einige Nachbarn finden das ewige Hin und Her der Meisen vor Müllers Fenster ziemlich suspekt. Einmal war sogar die Kriminalpolizei bei ihm. Jemand hatte Müller des illegalen Singvogelhandels bezichtigt. In einer Berliner Zeitung war zuvor gemeldet worden, Wolfgang Müller würde Singvögel züchten, um sie an Feinkostgeschäfte zu verkaufen. Dabei war das nur eine Satire, weit entfernt von der Wahrheit, denn schließlich „lassen sich Blaumeisen gar nicht auf solch engem Raum züchten. Sie brauchen zum Nisten einen Abstand von mindestens hundert Metern, die kann man nicht einpferchen.“
Wolfgang Müller hat ein deutsch-isländisches Blaumeisenbuch herausgebracht, das seine ornithologische Leidenschaft mit der für das Land im hohen Norden verbindet. Sein Nachschlagewerk mit dem vielsagenden Titel „Blue Tit“, so heißt Blaumeise auf Englisch, versammelt in alphabetischer Reihenfolge verschiedene Begriffe, Anekdoten und Spitzfindigkeiten zur isländischen Kultur. Die Texte der von Müller zusammengestellten Eintragungen, die zweisprachig nebeneinander stehen, erinnern an volkskundliche Lexika, wie man sie noch von den Großeltern kennt. Mit Liebe zum skurrilen Detail informiert der Autor über Windzauber, Rentierflechten oder auch die isländischen Ausdrucksformen der Angst. „Ich habe da alles hereingeschrieben, was ich interessant und wichtig fand, es ist nicht unbedingt wissenschaftlich.“ In einer Fußnote vermerkt der Autor, Island sei mit der Orchidee vergleichbar, weil das Land und die Blume zu den jüngsten ihrer Art gehörten und sich ständig metamorphisierten.
Die winzige Wohnung in der Waldemarstraße reicht Wolfgang Müller. Die Einrichtung ist minimalistisch: Schreibtisch mit Computer, zwei Stühle, ein Sekretär aus Holz. Andere Möbel würden nur Platz wegnehmen. Stattdessen steht im Schlafzimmer, neben dem Bett mit der Siebziger-Jahre-Stehlampe, ein riesiges Bücherregal. Wolfgang Müller schätzt seinen Bestand auf rund zweitausend Bücher. Drei von fünf Regalen sind allein mit Literatur über Island gefüllt. Viel Antiquarisches ist dabei, Reiseberichte aus dem achtzehnten Jahrhundert, ethnografische und botanische Untersuchungen, die isländische Sagensammlung „Edda“. Das „Deutsche Wörterbuch“ der Gebrüder Grimm in achtzehn Bänden steht in der Stube. Und ein Gästebett. „Eigentlich ist das eine Couch zum zusammenklappen“, sagt Müller schuldbewusst, doch zum Aufräumen hat er gerade keine Zeit. Hat er doch vor kurzem eine „Zweigstelle“ des isländischen Goethe-Instituts in einem Berliner Frisörgeschäft eröffnet.
Das offizielle Goethe-Institut in Reykjavik wurde vor drei Jahren wegen Geldmangel geschlossen. Island-Fan Müller empörte sich darüber und machte eine Kunstaktion zu dem Thema. Seine „Walther-von-Goethe-Foundation“, benannt nach dem unglücklichen Enkel des Poeten, will mit Installationen und Performances die deutsch-isländische Kulturvermittlung weiter führen, abseits der institutionellen Wege. Island ist für Müller eine zweite Heimat geworden. Seit 1990 besucht der Zweiundvierzigjährige regelmäßig die Polarinsel.
„Ich lebe zwei bis drei Monate im Jahr in Reykjavik“, sagt er, „miete eine Wohnung, und fahre im Land herum.“ Unterwegs begegnet er eigenwilligen Menschen, Farmern, die Gedichte rezitieren, und Elfenbeauftragten, die Karten für das Stadtbauamt zeichnen, damit die Wohnungen des Zaubervolkes nicht durch neue Straßen zerstört werden. Wolfgang Müller lebt gern an zwei Orten. Der Wechsel erlaubt ihm Distanz zum Gewohnten. „Ich sehe die Dinge vom anderen Ort aus mit Abstand, und kann so besser unterscheiden, was zu tun ist und was nicht. Wenn ich in Reykjavik bin, reflektiere ich mein Leben in Berlin, und umgekehrt.“
©Jana Sittnick 2001 / Berliner Zeitung, Magazin