Der Orthopäde guckt auf mein Knie, wir reden über mein Bewegungsprofil. Der Arzt klärt mich über mein Senk-Spreiz-Fuß auf, und wie der die Knie-Stellung beeinflusst. Dann sagt er was über das Maßhalten in allen Dingen des Lebens, auch im Sport. Er kann Flow-Yoga nicht von Bikram-Yoga unterscheiden, und sagt, dass trainieren bei 40 Grad nicht gesund sei. Ich sage, das tue ich gar nicht. Er guckt mich an, irritiert ob des Widerspruchs, und mit Silberblick. Ich weiß nicht, in welches Auge ich gucken soll. Er verschreibt mir MRT.
Kategorie-Archiv: BERLIN – BLOG
Wilmersdorf – Steilkurve
Wir sind die letzten auf B.s Geburtstagsparty und tanzen (Vogue, Moonwalk, dicker Käfer – mit Armen und Beinen in der Luft – alles dabei): Eine Handvoll betrunkener Gäste, mit steil nach oben verlaufender Tanzkurve. Gastgeberin B. hält sich tapfer; irgendwann lehnt sie wortlos müde am Türrahmen, anstatt uns rauszuschmeißen. Also brechen wir auf, sagen lallend danke für die schöne Party, wünschen einen schönen Urlaub, Küsschen hier, Küsschen da, es nimmt kein Ende. Draußen liegt der unbefleckte, stille Sonntagmorgen. Conny und ich gehen ein Stück. Conny ist Make-up-Artist, sie weiß, welche Schauspielerinnen richtige Zicken sind, und welche Trainer die Haare färben lassen. Aber Diskretion gehöre zu ihrem Job, sagt sie. Wer lästert, fliegt raus. Am Rathaus Schöneberg trennen wir uns, ich muss allein weiter. Der Stadtpark liegt da wie ausgestorben, es ist schon hell. Ich gehe am „Parkcafé Pusteblume“ vorbei, an windschiefen Pizzeria-Schildern, Zeitungsboten, Brotlieferanten und einer Rentnerin mit Hund. Nach einer Ewigkeit erreiche ich den S-Bahnhof. Vom Bahnsteig aus sehe ich an der Hauswand gegenüber die überlebensgroße Möbel-Hübner-Werbung, mit der Postleitzahl aus dem alten West-Berlin. Später, im alten Ost-Berlin, kaufe ich Kaffee und Croissants und grüße das graffiti-verzierte Thälmanndenkmal.
Freibad Kunst Schwalbe
Der öffentliche Waschraum ist so groß, da mache ich gleich ein Foto: Mein Porträt im Spiegel über dem Waschbecken und noch einmal im Handydisplay (doppelt gespiegelt!), im Hintergrund steht ein WC als Zeichen für den Kreislauf. Ich finde mein Bild gelungen, an Brisanz und Aussage, vielleicht reiche ich es zur Biennale ein. Draußen pickt der Hausmeister den Müll vom Rasen, er ist freundlich, kommt aus Köpenick und hat oben keine Zähne mehr. Er fährt eine schlammgelbe Schwalbe mit Silberflecken, und dreht mal kurz auf, um mir zu zeigen, was sein Gefährt drauf hat. Er sagt, seine Nachbarn würden meckern über den Gestank vom Schwalbe-Gemisch, ich sage, da müssten sie durch, er sagt, auch Fahrradfahrer sollten mit Kennzeichen fahren, da sage ich nichts.
Moabit: Mann mit Vogel
Am Hansaplatz kommt ein Mann in den U-Bahnhof, Ende 50, hager und leicht verwahrlost; auf seiner Schulter sitzt ein Papagei, der in kurzen Abständen krächzt. Eine Passantin zuckt jäh zusammen und nimmt Abstand. Der Mann fährt mit der Hand in die Tasche seines speckigen Sakkos und hält dem Vogel ein Leckerli hin. Als das Tier knabbert, bindet der Mann geschickt eine Schnur um seinen Schnabel. Dann kommt die U-Bahn, der Mann mit dem Vogel steigt ein. /// In Puerto de la Cruz auf Teneriffa gibt es den Loroparque, einen berühmten Freizeitpark. Sein Wahrzeichen ist ein Papagei, man sieht ihn überall, auf Karten, Flyern, Mützen und Taschen. Werden die Vögel dem Park zu alt, gehen sie an Privatpersonen, die in Puertos Fußgängerzone „anschaffen“. Die alten Loros sitzen dann auf den Schultern leicht verwahrloster Männer und krächzen. Touristen begaffen sie und werfen, wenn es gut läuft, ein paar Münzen in den Hut. /// Den Moabit-Mann mit dem Papagei sehe ich einige Tage später am Alexanderplatz wieder. Er bettelt, der Papagei krächzt. Ein paar Spanier machen Fotos.
Plänterwald Plansche
Ich fahre mit dem Rad über knirschenden Waldboden zur „Kinderplansche Plänterwald“, einem ruhigen, aus der Zeit gefallenen Spielplatz mit eigenwilligem DDR-Charme: Wuchtige Seehundpaare (Tierplastiken im Realismus-Stil) stehen im Kreis um ein steinernes, zur Mitte abgesenktes Rondell, aus ihren Mäulern sprudelt Wasser im 10-Minuten-Takt. Von oben knallt die Sonne, Kinder laufen barfuß über die nassen Steinplatten, duschen und kreischen unter den Seehund-Fontänen. Plötzlich tauchen meine Kindheitserinnerungen auf: Wir laufen auf schmalen Gehwegplatten, die über Waldboden an Blumenrabatten vorbei zum Bungalow führen. Wir sehen Insekten am Boden, die sich paaren und merkwürdig ineinander verschoben sind. Wir rauchen zum ersten Mal Lunge und geben nicht zu, dass es weh tut. Wir trinken Kräutertee aus Plastiktassen und essen Wurstbrote. Wir riechen sommertrockene Kiefern, das Seewasser in unserem Haar und fühlen den Sand unter den Füßen. Wir bewegen uns in der Unendlichkeit sonnendurchfluteter Nachmittage, an denen die Zeit still steht.
Wedding Zirkusdirektor
Es lebte einmal ein Zirkusdirektor, der schlief schlecht und schwitzte stark. Der Direktor bekam Geld vom Staat und Tabletten vom Psychologen und führte seinen Zirkus wie ein Königreich. Seine Mitarbeiter bewegte er wie die Ponys in der Manege, sanft aber bestimmt, je nach Vorteil und Laune. Vor der Presse (die seinen Zirkus gut fand, weil „witzig und unverfälscht“ ) betonte der Direktor, dass er 50 Menschen Arbeit geben könne (und zählte im Kopf die Schwarzjobs dazu); im Team sprach er von einer „großen Familie“, in der jeder so gut sei wie der andere. Seinen Günstlingen machte der Direktor Geschenke, als Dank für ihre Loyalität, Widerspruch duldete er nicht. — TBC
Spree Catch & Release
Spree – Ufer, Wasserweg: Zwei große Jungs lagern am Wegesrand, mit ihren Zelten und Schlauchbooten und ihrer High-Tech-Angelausrüstung. Sie sind Berliner, hörbar, Marco und Ronny, zeigen der Sonne ihre tätowierten Muskeln und haben vor, die Nacht draußen zu verbringen. Alte Karpfen würde er wieder zurücksetzen ins Wasser, sagt Marco, um die Art zu erhalten, und die schmeckten ja auch nicht. Catch and release, das sei das Prinzip von fangen und wieder freilassen. Ronny sagt nicht viel. Er hat sich im Schlauchboot, als er die Angelschnüre bewacht hat, schmerzende Knie geholt. Er trinkt schweigend seinen lauwarmen Cola-Rum. Als eine Gruppe Fahrradfahrer mit orange-gelben Warnwesten vorbei kommt, ruft Marco ihnen zu, sie sollten aufpassen, weiter vorn sei eine Verkehrskontrolle. Wir lachen über die Verarschung, Marco versteht sich drauf.
Lichtenberg Hochzeit
Sonntagabend, ein Mann und eine Frau, in der Straßenbahn an der Landsberger Allee; er sagt stolz, er habe noch eine Flasche Rotwein mitgenommen, sie schnappt empört nach Luft, sagt, was ihm einfiele, sie sei asiatischer Adel, das falle auf sie zurück, die Asiaten kennen sich hier alle, und DAS ginge ja GAR NICHT, bei einer Hochzeit einfach zu STEHLEN!!! Sie hört gar nicht mehr auf, sich zu erregen in der Bahn, alle hören mit, die Hälfte der Passanten muss grinsen. Die Frau trägt eine große schwarze Sonnenbrille in der Abenddämmerung, und ihre Rede klingt hysterisch und lustig. Der Mann hat einen roten Kopf (vom Wein, vom Anschreien?) und sagt gar nichts mehr.
Perfekt in P-Berg
Besuch bei Herrn K., Therapeut: Schwarze Raumteiler, schwarze Ledersessel, schwarze Rollschränke. An der Wand hängt das Bild einer Treppe, die nach unten führt; Schlammig-Ockerbraun vor schwarzem Hintergrund. Herr K. sagt, ich wirke gar nicht so depressiv. Er lässt mich Fragebögen ausfüllen, und erklärt mir später, dass das Ja-Nein-Ankreuz-System eine hohe Trefferquote habe, und bei der „infas“ für Wahlprognosen verwendet würde. Ich wiederum hätte mit meinen Antworten alle Stolpersteine genommen. Weil ich behaupte, nicht Kekse im Bett zu essen, nicht zu spät kommen, nicht über Dinge zu reden, von denen ich nichts weiß, macht Herr K. einen Drang nach Perfektionismus und Schlimmeres in mir aus. Wenn ich gewisse Fragen anders beantwortet hätte, säße ich nicht hier, so Herr K. Er guckt beim Reden an mir vorbei. Meine Halsschlagader klopft laut vor Wut. Ich scheiße auf die „infas“, auf die Wahlprognosen und auf Herrn K., ich sage, sein Fragenkatalog sei Bullshit, er solle sich was anderes einfallen lassen. Dann ist die Stunde vorbei
.
Lankwitz Echsenmann
In der S-Bahn nach Lankwitz sitzt mir ein kleiner Mann gegenüber. Es ist Freitagnachmittag, die Bahn ist voll mit Leuten auf dem Weg ins Wochenende. Der kleine Mann (müdes Gesicht, verstaubte Klamotten, im Rucksack eine Bierflasche) ruckelt unaufhörlich mit dem Kopf, guckt meinen Sitznachbarn an, dann mich, dann aus dem Fenster, dann wieder ins Wageninnere. Er ruckelt und glotzt die ganze Zeit, wie eine Eidechse, sein Blick huscht von Ort zu Ort. Der Mann neben mir, ein breitschultriger Handwerker, grunzt nur verächtlich, als er die Blicke bemerkt. Vielleicht ist ihm der Echsenmann nicht Gegner genug. Als ich Blickkontakt aufnehme, flattern die Augenlider des Mannes wie kleine Flügel. In Lankwitz steigen wir alle aus, der kleine Mann, mein Sitznachbar und ich, und sofort verlieren sich unsere Spuren.





