Disco Diva in Marzahn

marzahn

Meine beste Freundin in der 7. Klasse hieß Anja Michalik. Sie wohnte wie ich im Neubaugebiet Marzahn und besuchte die Polytechnische Oberschule K.E. Ziolkowski, benannt nach dem russischen Raumfahrt-Pionier. Anjas Vater war beim Zoll und die Mutter Ingenieurin. Die Eltern arbeiteten Vollzeit, Anjas Bruder war bei der Armee, die Schwester in Dresden – und so hatte Anja nachmittags sturmfreie Bude, die wir für unsere heimliche Leidenschaft nutzten: das modische Frisieren. Nach Bildern aus der Popcorn oder Bravo kämmten, bürsteten, toupierten, flochten, drehten und sprayten wir mit Hingabe unsere Haare. Wenn kein West-Magazin da war, frisierten wir aus dem Kopf. Mal sahen wir aus wie Madonna, Kim Wilde oder Sandra, mal wie Limahl, Worf oder Counselor Troi aus Star Trek. Dazu trugen wir hellblauen Lidschatten und Lipgloss und tanzten nach Duran Duran, die ich auf Kassette hatte. Anjas klobige Kommode mit Spiegel und den seitlich aufgeschraubten Glühbirnen sorgte für den nötigen Glamour. War ein Frisurengang durch, bewerteten wir ihn und begannen dann von vorn; waschen, föhnen, legen, schminken, tanzen. Die Stunden flogen wie im Rausch dahin, wir waren backstage am Broadway, in Hollywood oder in einer Flugkapsel, wir waren Disco Queen, Räuberin, Superheldin. Mit jedem neuen Styling drangen wir tiefer in das Dickicht vor und vergrößerten den Abstand zwischen uns und der Welt.