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Arbeit und Trost

zwei kleine Flaschen Sekt

Ein Mann hält seine Ledertasche akkurat auf den Knien. Unruhig schaut er umher, murmelt, schnaubt in sein Stofftaschentuch, zieht einen Pikkolo Rotkäppchensekt aus der Tasche, nimmt einen Schluck, steckt die Flasche wieder ein, zieht seine Fäustling-Handschuhe an und steigt aus der Bahn. Es ist an einem Dienstagmorgen 8.30 Uhr am Berliner Ostbahnhof. Ich sehe den Mann häufiger, irgendwann spreche ich ihn an, ob er auch zur Arbeit fahre. Arbeit??? Die hätte er schon lange nicht mehr, bricht es aus ihm heraus, die hätten doch alles dicht gemacht in den Neunzigern. Früher, da fuhr er jeden Morgen ins Ausbesserungswerk der Bahn, am liebsten Frühschicht, 4.30 Uhr aufstehen, Züge warten, nachmittags die Vögel füttern. 23 Jahre lang, nur zweimal krank gewesen (Blinddarm, Bronchitis). Und immer noch täglich die Strecke? Ja, was denn sonst, zuhause könne er nicht bleiben, da käme ja die Decke runter. Also Tag für Tag um 6 Uhr auf, Brote schmieren, Thermosflasche Tee einpacken, so wie früher, Mantel an und los. Manchmal einen Pikkolo, gegen das Grau.

Gropiusstadt: CampDavid

Neulich erzählte mir M. von Gropiusstadt in den 90ern, und dem Camp David Trend. Als die Proll-Marke in der Platte aufkam, liefen viele Jungs ganz stolz in den Klamotten rum, vor allem samstags in der Disko. Für M. waren das „Blödmänner in Scheißklamotten“, die aber teuer waren. Deswegen taugten sie zum Statussymbol. Wir lachten, und ich stellte mir blonde Cheerleaderinnen vor, die Cola-Rum trinken mit Camp David Hengsten. Ein paar Tage später sehe ich in Prenzlauer Berg einen Mann mit Camp David Jacke. Dazu trägt er Stone-Washed-Jeans und Basecap, sein graues Gesicht ist eingefallen, er hat Mühe, sich zu halten. Es ist Sonntagvormittag, ich warte auf die Bahn, der Mann, Mitte Vierzig, wankt auf mich zu. Wahrscheinlich auf Drogen, denke ich, und wende den Blick ab, will nicht angesprochen werden. Doch er hat mich ins Visier genommen. Ob ich wüsste, wie viele Stationen es bis Paul-Heye Straße seien, ich gebe mir Mühe und zähle drei. Er bedankt sich, und meint, nach dem Insulinspritzen sei es schwer mit der Orientierung, ein Glück, dass es nicht weit sei. Ich nicke, denke Scheiß auf die Klamotten. Die Bahn kommt.