Rieke hat Redebedarf, sie war auf Reisen, und Reisen bildet. Zwei Monate Thailand, da hat sie ihre Freundin bei der NGO besucht, eine Tempeltour gemacht, bisschen Strand, bisschen Party, und dann noch entgiftet, in einem Yoga-Resort. Ganz toll war das, mit Kräutern und Algen, und so viel Energie habe sie bekommen, unglaublich, und den Blick fürs Wesentliche. Geld, Job, Menstruation, Antworten auf so Fragen halt. Und die Fragen stellt sie uns am Stammtisch. Rieke teilt gern, nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch im richtigen Leben. Auf ihre Rede folgt peinliche Stille, wir Stammtisch-Hocker wissen nicht, was wir sagen sollen, fühlen uns schuldig, wir haben ja nicht entgiftet, eher im Gegenteil. Der Mann am Tisch hat nicht mal menstruiert.
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Kreuzberg
Der kleine alte Mann läuft hinter mir, ruft, als ich bei Rot die Fußgängerampel überquere, dit kost fuffzich Euro! Ich reagiere erst nicht, dreh mich dann aber doch zu ihm um, als er fast schon neben mir ist und seinen Flaps-Spruch wiederholt. Wir kommen ins Gespräch, laufen gemeinsam die Wassertorstraße entlang, er ist Ende 60 und einen Kopf kleiner als ich. Er erzählt, dass er hier mal einen Fernseher herbrachte für die Kirche und nur ganz kurz hielt zum Ausladen und zack, waren die Politessen da! Haben 84 Mark kassiert. Als sich unsere Wege trennen, wünsche ich ihm alles Gute, und er sagt unvermittelt, wir haben ja unser Enkelkind hier abgegeben, und fahren jetzt wieder nach Hause, nach Charlottenburg.
Wedding – Frau mit Hund
U-Bahnhof Wedding. Beim Aussteigen eine Wand von blauen Anoraks. BVG und Polizei kesseln Passanten ein, niemand soll entkommen. Wir zeigen artig unsere Fahrausweise. Da, rote Jacke, ruft eine BVG-Frau, es kommt zum Tumult, die blauen Anoraks visieren ihr Ziel. Eine junge Frau ohne Fahrschein, Mitte 20, kurze Haare, kräftige Statur, hat ihren Hund im Arm, krümmt sich über den Körper des Tieres. Sie will es nicht hergeben, von vier Seiten zerrt man an ihr. Die Frau sagt nichts, ihr Blick ist starr, ihr Kampf ist aussichtlos. Nach einigen Sekunden trennt man den Hund von der Frau, bringt ihn abseits. Das Tier fiept leise, die Frau schaut stumm auf einen fernen Punkt.
Wedding – Dart
Abends die Strecke gelaufen, am Humboldthain vorbei, die Hussitenstraße hinab, bis zur Ackerstraße. Hier, im oberen Teil, ist Wedding, trash living, ein kleiner EDEKA in Flachbauriegel, Sozialbau, davor eine Gruppe von Trinkern, mit Bierflaschen in der Hand. Einer sagt mit heiserer Stimme, Kalle sei ein Arschloch, für den mache er GAR NICHTS mehr. Der Edeka ist verdreckt, das Kühlregal taut vor sich hin, die Frau hinter der Fleischtheke sieht mitgenommen aus. Schrippen liegen in einer Plastikschale, die auf dem Boden steht. Ich gehe hinaus und an dem Flachbau vorbei, darin eine Dart-Kneipe. Durch die Fensterscheibe sehe ich, wie ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren Billard spielt, ernst und anmutig.
Katze
Die Neugier ist der Katze Tod, und die Natur ist äußerst unbarmherzig.
(Charles Dickens: Oliver Twist)
Jill-Jolene
Jill-Jolene macht ihren Bachelor in Eventmarketing, dann hört sie auf mit dem Studium. Bei der Agentur Five Stars kann sie als Junior Assistant Manager anfangen (was die zweite Bürotante ist). Was braucht sie die Fachhochschule, wenn sie in den Job einsteigen kann? Die Agentur macht was mit Kultur, die holen „Stars“ ran für den Roten Teppich, die Veranstalter zahlen dafür. C-Promis, die keiner kennt, Models, Serienschauspieler, Drag Queens – die laufen über den Teppich, lassen sich fotografieren und trinken Sekt. Five Stars verdient ganz gut damit. Jill-Jolene hat auch schon mal gemodelt, und sie will in den Eventbereich, unbedingt, schon wegen der Kontakte.
Thailand
Der Motz-Verkäufer wartet an der Terrasse des Vietnamlokals. Während ich nach Münzen suche, entdeckt er das Saigon – Bier vor mir auf dem Tisch, sagt, das kenne er aus Thailand, da sei er mal gewesen, vor langer Zeit. Er sagt das so heftig, als müsste er der Vergangenheit ein Stück Leben entreißen, ein Damals, das noch geordnet war, mit Freundin, Wohnung und Job, ohne Suppenküche und Notaufnahme, ohne Straßenzeitung und Almosen.
Muckis
Sie waren das Macherpaar im deutschen Auswandererdorf. Er war unbeliebt, weil er Erfolg hatte mit seinen Geschäften und weil er ein mieser Arbeitgeber war: Oft zahlte er nur einen Teil des abgemachten Lohns. Sie hatte klein angefangen, wie die meisten auf der Insel, hatte Hamburger gebraten und das Leben genossen so lange sie jung war, doch irgendwann, so raunte man im Tal, reichte ihr das nicht mehr. Die beiden wurden ein Paar. Sie machten Geld mit schicken Ferienwohnungen, Ayurvedamassagen und Livemusik-Bars. Aus Deutschland ließen sie Pianisten einfliegen und Chansonsängerinnen, die für ihre brotlose Kunst keine Gage bekamen, dafür aber einige Tage gratis bleiben durften, mit Meerblick. Er hieß Matthias, sie Romina, und gegenseitig nannten sie sich „Mucki“. „Mucki“ hin, „Mucki“ her. Wir nannten sie heimlich „die Muckis“. Sie waren unsere Chefs, und wir hassten sie.
Menschenfreund
Mein guter Freund P. bemüht sich sehr um Redlichkeit, zum Beispiel nicht zu lügen, nicht schlecht über andere zu reden, nicht hochmütig zu sein. Oft mahnt er mich, wenn ich auf den Klischees klimpere (ich liebe Klischees!), ich würde andere „über einen Kamm scheren“. Bei der Musik kommt P. allerdings an seine Grenzen. Vor kurzem hatten wir die Neunziger am Wickel, und P., der Ska-Punk, Brit Pop und New Wave mag, ein großer Freund der „John Peel Sessions“ und noch immer aufrichtig „independent“ ist, P. also hatte so seine Probleme mit Techno, verstand das Lebensgefühl nicht (Hedonismus! Darkroom!). Ich beharrte darauf, dass Techno revolutionär war, und da konnte er schlecht was gegen sagen. Als wir dann zu Chrystal Waters, TLC und Snap kamen, war P. aber wieder obenauf, empörte sich über den „Euro Dance“. Voll Verachtung sagte der Menschenfreund: „Das braucht kein Mensch“.
Kunstbetrieb
Ein Mann vom Projektraum ist zu Gast im Radio. Wir haben einen straffen Rhythmus, sagt er, und wir folgen strengen Parametern. Um auf die Abläufe im Kunstbetrieb aufmerksam zu machen. Aktuell geben wir Künstlern einen Raum, die selbst nicht größer als 1,60 Meter sind und die zu Galerien sonst keinen Zugang haben. Alles klar im Kopf bei den Leuten aus der „Subkultur“? Je weiter weg vom Geld, umso verbiesterter. Wie hält die Radiofrau das aus?