Kategorie-Archiv: BERLIN – BLOG

auf der Autorückbank

roter flamingo im auto

Sonntagmorgen, 6 Uhr. Auf der Straße schreit ein Mann, er schreit und schreit und hört nicht auf. Dann geht das Schreien in ein Gurgeln über. Der Mann liegt auf dem Trottoir, mit dem Gesicht nach unten, ein anderer drückt ihn zu Boden. Ein blauer PKW steht einsam auf der Fahrbahn, die Türen offen, die Straßenkreuzung ist menschenleer. Aus dem Fenster im vierten Stock des Miethauses gegenüber ruft jemand, er habe schon die Polizei alarmiert. Als die Polizei kommt, schreit der Mann am Boden wieder los, er lasse sich seine Freiheit nicht nehmen. Der ältere Polizist schaut um sich, doch außer zwei Frauen an der Bushaltestelle ist niemand da. Sein jüngerer Kollege spricht auf den am Boden Liegenden ein, doch der schreit weiter. Dann packt der jüngere Polizist den Schreier und hievt ihn ins Polizeiauto. Der Mann  liegt nun eingerollt auf der Autorückbank, wie ein stummes Paket.

Berlin Mitte: Stadtschloss

das berliner stadtschloss

Barocke Pracht trifft hartes Schwarzweiß: Auf dem Boden des als rote Videoprojektion angelegten Spiegelsaals aus dem 18. Jahrhundert steht ein schmuckloser Monitor, der die Sprengung der Berliner Schlossruine von 1950 zeigt. Der Ministerrat der DDR hatte kurz zuvor beschlossen, das 1945 von den Alliierten bombardierte preußische Stadtschloss an der Museumsinsel zu beseitigen. Und das Volksgedächtnis einmal mehr von den Anhaftungen der Vergangenheit zu befreien. (Schließlich, so die Ansicht der Kommunisten, war das Schloss ein Symbol jenes militaristischen Erbes, das es ideologisch zu überwinden galt.) Die Filmaufnahmen der Schloss-Sprengung sind von brachialem Reiz: Nach der Zündung des Sprengsatzes stürzen die Außenmauern binnen weniger Sekunden in sich zusammen und setzen eine gigantische Rauchwolke frei, die in den Himmel steigt. Zurück bleibt ein leerer Platz. Heute sieht man dort eine große Plastikplane, hinter der die Vergangenheit wieder aufgebaut wird – nicht ohne in die Zukunft zu weisen, so die PR-Abteilung des Platzes.

Tinder und Zalando

Tinder die Liebesbörse

Ich warte auf mein tom ka gai und lausche den beiden Frauen am Nebentisch, Mitte 20, lange Haare, breite Hüften in Röhrenjeans. Ihr Englisch ist dunkel und schwer, mit slawischem Akzent. Über Jobs reden sie, über Marketing und über Liebe. Einige Tinder Dates habe sie schon gehabt, sagt die Eine stolz, ein Date hätte sie sogar in seine Wohnung eingeladen, zum Tee. Das habe ihr gefallen. And then, he tried to kiss me! Bei kiss geht ihre Stimme hoch. Die Andere macht oh und ah. Als meine Suppe kommt, höre ich nur noch Wortfetzen: … that´s what he said… I dislike that a lot. Es kam wohl nicht zur Liebe, das Date wollte kein zweites Mal. Als die beiden Frauen das Lokal verlassen, sehe ich ihre bunten Halstücher, und denke an bulgarische Stewardessen.

Disco Diva in Marzahn

marzahn

Meine beste Freundin in der 7. Klasse hieß Anja Michalik. Sie wohnte wie ich im Neubaugebiet Marzahn und besuchte die Polytechnische Oberschule K.E. Ziolkowski, benannt nach dem russischen Raumfahrt-Pionier. Anjas Vater war beim Zoll und die Mutter Ingenieurin. Die Eltern arbeiteten Vollzeit, Anjas Bruder war bei der Armee, die Schwester in Dresden – und so hatte Anja nachmittags sturmfreie Bude, die wir für unsere heimliche Leidenschaft nutzten: das modische Frisieren. Nach Bildern aus der Popcorn oder Bravo kämmten, bürsteten, toupierten, flochten, drehten und sprayten wir mit Hingabe unsere Haare. Wenn kein West-Magazin da war, frisierten wir aus dem Kopf. Mal sahen wir aus wie Madonna, Kim Wilde oder Sandra, mal wie Limahl, Worf oder Counselor Troi aus Star Trek. Dazu trugen wir hellblauen Lidschatten und Lipgloss und tanzten nach Duran Duran, die ich auf Kassette hatte. Anjas klobige Kommode mit Spiegel und den seitlich aufgeschraubten Glühbirnen sorgte für den nötigen Glamour. War ein Frisurengang durch, bewerteten wir ihn und begannen dann von vorn; waschen, föhnen, legen, schminken, tanzen. Die Stunden flogen wie im Rausch dahin, wir waren backstage am Broadway, in Hollywood oder in einer Flugkapsel, wir waren Disco Queen, Räuberin, Superheldin. Mit jedem neuen Styling drangen wir tiefer in das Dickicht vor und vergrößerten den Abstand zwischen uns und der Welt.

Golem in Kreuzberg

Golem

Lustig geht es los im Sagengewirr um diese düstere Gestalt; mit handgroßen bunten Plastikfiguren, made in China. Sie sind die Merchandise-Ableger bekannter Computerspiele wie Minecraft, heißen Eisen-Golem, Steam-Golem oder Urugal und sind neutrale Kreaturen, die zum Schutz der Dorfbewohner auch mal Schweinezombies angreifen.

Der Golem, so die Sage der jüdischen Mystik, ist ein vom Menschen erzeugtes Geschöpf aus Erde und Staub, unter Anwendung magischer Formeln zum Leben erweckt. Seinem Meister hörig, soll er die von Gewalt und Usurpation bedrohte Gemeinschaft schützen. Doch die Kreatur gerät außer Kontrolle und wird selbst zur Gefahr für ihren Schöpfer.

Der Mythos vom Menschen, der künstliches Leben erschafft, steht im Mittelpunkt der Ausstellung „Golem“ im Jüdischen Museum in Berlin-Kreuzberg. Die Schau bietet eine Vielzahl faszinierend-schauriger Golem-Darstellungen im Wandel der Zeiten: In Magiebüchern des Mittelalters und Wunderkammer-Objekten der Renaissance.

Und auch in der modernen Malerei, Literatur und Installation, im Comic, Video und Spielfilm. Ob umrankt von hebräischen Schriftzeichen, als ruheloser Nachtwandler, verpuppte Larve im Raum oder als Koloss mit Stein-Frisur. Die menschliche Sehnsucht nach Macht und Erlösung findet hier ihr Bild als Symbiose von Heil und Horror.

Der phantastische Roman „Der Golem“ von Gustav Meyrink (1915) hat das moderne Bild des Golem geprägt, ebenso der deutsche Stummfilm „Der Golem und wie er in die Welt kam“  (1920), in dem Regisseur Paul Wegener selbst den Riesengolem spielt. Wegeners Film gilt, dank expressionistischer Bildsprache, heute als Klassiker des Horrorfilms.

Die Pop-Kultur punktet mit Hulk vs. Golem – Comics, und interaktive user interfaces scannen die Gesichtskonturen der Besucher und passen sie der Projektion auf dem Bildschirm an. Das alles, auch die kitschige Kampffigur der Spielekonsolen, ist großartig.

Foto: Autorin im Jüdischen Museum Berlin, Bildausschnitt: Ktura Manor, War Time / Peace Time, Andorra, 2014, courtesy #jmberlin

Susi, Tiaré und Amber

Pappeln im Abendrot

Es war ein grauer Wintertag, an dem die betonierte Wolkendecke nicht aufreißen wollte, und seit dem frühen Morgen war Susi schlecht gelaunt. Es war ihr freier Tag, sie hätte ausschlafen können, doch die Geräusche der Straßenbahn weckten sie schon kurz vor sieben. Sie hatte Glück, denn sie musste heute weder Mikes schlappe Witze noch Silvias blödes Gekicher anhören und sich auch keine Online-Kurztexte für die Schnäppchenreise nach Venedig oder den Pizza-Rabatt für Gruppen ausdenken. Das war schon was. Doch es schien keine Sonne, und Susie wusste nichts mit sich anzufangen. Anne war mit den Kindern im Spieleparadies, Doro hatte Spätschicht, Udo war auf unbestimmte Zeit in Portugal. Ach ja, und Peter sprach mal wieder nicht mit ihr, die Zicke, weil sie ihn beim Schnäpse-Zocken auf seinen aktuellen Lover angesprochen hatte (der sich schon wieder aus dem Staub gemacht hatte, was Susi aber nicht wusste). Er war auch immer so schnell eingeschnappt, der Peter! Vielleicht hatte sie auch was Blödes zu ihm gesagt, es waren viele Schnäpse gewesen letzten Samstag, so ganz genau konnte Susi sich nicht mehr erinnern. Sie putzte die Zähne, zog den Steppmantel über Jogginghose und Schlabbershirt und ging auf die Straße. Sie sah niemanden an. In ihrer schlechten Laune ertrug sie weder die Welt, noch die Leute um sich herum, und sich selbst am allerwenigsten. Mit ihrem Depri schaffte sie es immerhin bis zur Drogerie. Dort entdeckte sie ein exotisch duftendes Duschbad – Tiaré & Amber stand auf dem Etikett. Die Packung kostete 89 Cent. Das ist sicher mit Original-Zutaten, bei dem Preis, dachte Susi amüsiert, und nahm noch Haaröl und Nagellack dazu. Sie spürte, wie ihre Lebensgeister allmählich zurückkehrten.

Kuchen und Klapphandy

klapphandy

Im Bistro am Hauptbahnhof ist es knackend voll. Menschen mit Rollkoffern vertreiben sich ihre Wartezeit mit Kaffee und Kuchen. A. und ich haben Glück: Nach kurzem Suchen finden wir zwei Plätze in der Ecke vor dem Klo. Der Sitz ist winzig und der Abstand zum Nebentisch so schmal, dass wir jedes Wort hören: Ein Mann und eine Frau, um die Dreißig, unterhalten sich über Off-Theater und über eine Veranstaltung am Abend, zu der der Mann nicht mitkommen will, weil er nicht eingeladen wurde. Er spricht sehr ernst über die Dinge in seinem Leben und die Unmöglichkeit, damit Geld zu verdienen, sein Deutsch hat einen nordischen Akzent (dänisch, schwedisch?). Die Frau (deren dunkel-samtige Stimme in Kontrast zu ihrer zierlichen Statur steht) versucht ihn vom Mitkommen zu überzeugen, doch er bleibt stur. Nach einem tieftonigen hmm verstummt sie. Die beiden gehen sehr vorsichtig miteinander um, so, als wären sie aus dünnwandigem Porzellan und wüssten um ihre Zerbrechlichkeit. Dann klingelt ein Telefon. Die Frau entschuldigt sich, kramt in der Tasche und zieht schließlich ein Klapphandy in Metallic-Rot hervor. So ein old school Handy – wie es in den 2000er Jahren fast überall en vogue war, um kurz darauf vollends von der Bildfläche zu verschwinden. Ich freue mich über das Oldie-Design und seine Unschuld (nur telefonieren!), und denke laut darüber nach, mir auch eins anzuschaffen. Um durch Technik-Verzicht meine Privatsphäre zu retten. Meine Begleitung verdreht nur die Augen und sagt: „Ja ja Unschuld, vielleicht wirst du einfach nur alt.“

WhatsApp in Wedding

smileyWhatsApp Gruppen. Ich war mal in einer. Mein damaliger Chef meinte, es sei wichtig, wegen der Kommunikation. Die Kommunikation drehte sich um Probentermine und ihre Nicht-Einhaltung. Also wenn die Schauspieler merkten, dass sie sich zur Probe um 11 Uhr verspäteten, schrieben sie, die U-Bahn hätte eine Verkehrsstörung und schickten Bilder von rosa Schleifen. Bei Beginn jeder neuen Probe (alle sechs Wochen) war damit zu rechnen, dass Alexandra, Nico, Katja oder André ihre Sorry, ich komme 10 Minuten später – Texte schickten. Dann brummte das Smartphone im Minutentakt, denn der damalige Chef und die anderen Proben-Mitglieder schrieben zurück: Alles klar – sind schon da – Grinsekatze, Zwinkersmiley. Ich saß derweil im Büro, schnitt Zeitungsartikel aus und überlegte, was ich mal mache, wenn ich groß bin.

Traum mit Meerschwein

meerschwein

Im Traum steige ich durch ein offenes Fenster in eine Parterre-Wohnung, draußen ist es dunkel und schwül. Im Zimmer sehe ich ein Meerschwein in seinem Terrarium, ich nehme es heraus und verschwinde. Das Meerschwein ist schwer und heißt Freddy. Wie ein Stofftier halte ich Freddy in die Luft, drehe ihn um die eigene Achse und drücke ihn an mich. Ich bin betrunken und will angeben. Freddy macht keinen Mucks. Plötzlich merke ich etwas Warmes an meinen Beinen: Freddy pinkelt mich an, volle Kanne. Da spüre ich seine Angst.

Moabit – Mariendorf

mariendorf

Nach-Weihnachtsfeier: Steffi hat zum Essen geladen, wir beide machen zum ersten Mal im Leben Schweinebraten. Steffi legt ein Rezept von Brigitte.de auf den Tisch, das wir Punkt für Punkt befolgen, sogar das mit dem Schmalz. Es läuft gut, Stunden später schmeckt es auch gut, nur Holger, Steffis Freund, meint, die Kruste könnte krosser sein. Die Runde protestiert lautstark (was er sich einbildet!) und isst tapfer die weiche Kruste auf. Die Gespräche sind weinselig und gondeln entspannt an der Oberfläche unserer Möglichkeiten. Es geht um Erbschmuck und Bio-Supermärkte, Gras und Chrystal Meth, Teenager-Partys und Tierhaltung. Timo, der im sozialpädagogischen Bereich tätig ist und durch seinen leiernden Sprechgesang an einen Pastor erinnert, macht sich für die Vierbeiner stark. Einmal hätte er zwei Katzen abgeholt, die „ziemlich durcheinander“ waren, um sie wieder aufzupäppeln. „Mit denen musste ich von Moabit bis nach Mariendorf fahren, mit der U-Bahn!“, schmettert Timo in die Runde, halb Anklage, halb Triumphgesang. „Von Moabit nach Mariendorf?“, meint Holger trocken, „kein Wunder, dass die da bekloppt werden.“

(Bild: Hieronymus Bosch, Garten der Lüste (Detail), courtesy Museo del Prado)