Kategorie-Archiv: BERLIN – BLOG

Discount – Disco

wedding street art

Wedding, Gerichtstraße: Morgens um halb neun schon eine lange Schlange. Alte Leute haben Zeit, sagt der Volksmund. Einer – groß, schlank, nach hinten gelegtes Haar – will reden. Mit öliger Stimme erzählt er der Kassiererin vom Supermarkt in der Müllerstraße, wo eine Mitarbeiterin zwar noch „janz jut aussieht“, aber „wat mit die Nerven“ hat, „keen Wunda“. Er redet und redet, statt seinen Einkauf einzupacken, es geht nicht weiter. Der Mann hinter ihm will die Brötchentüte nachschieben, um auch mal dranzukommen, da sagt der Ölige frech „wat machst DU denn, du bist noch jar nich dran!“ Die Frau vor mir dreht sich um, macht eine Handbewegung Richtung „Macke“, und sagt, dass „der dit seinem Schrank erzählen“ soll, ich muss lachen. Guten Morgen, Berlin.

(Bild: Street Art in Wedding, Gerichtstraße)

Köpenick: Krampenburg

Schmetterlingshorst an der DahmeDauercamping mit Imbisslokal. Zum Tresen gehst du über Holzstiegen, darunter hellgrauer Sand. Karibik irgendwie. Vor dem Lokal gibt es Spritzbeton-Flachbau und Blumenrabatten. Eine Kaurismäki-Film-Stimmung zwischen saukomisch und herzzerreißend. Die dicke junge Frau hat Mühe, ihr Kind zu halten, einen Säugling mit quadratischem Kopf. Es ist heiß, das Kind kräht, die Frau sagt mit leiernder Stimme immer wieder: Wo ist dein Dino, wo ist dein Dino? Das Gummispielzeug liegt ein Stück weiter auf den Gehweg geschleudert. Ein großer dünner Mann sitzt da mit seinem struppigen Hund, der vor sich hin bellt, eine Eins-A-Töle. Darfst du aber nicht mehr sagen heute, weil Diskriminierung. Der Mann trinkt sein Flaschenbier, steht auf und geht, sein linkes Bein ganz steif. Die Toiletten im Spritzbeton-Flachbau sind verschlossen, Dauercamping, da soll nicht jeder rauf. Eine Kabine gibt es für Gäste. Ich denke an die Ferienlager früher: Sportfest, Läusekontrolle, Disco. Zum Abendbrot kalter Kräutertee aus Plastetassen. Ich sitze auf einer Schaukel, damals, heute, und fliege in den blauen Himmel. Dann muss ich los, zur Fähre. Die heißt hier „Fährbär“.

(Bild: Dampfersteg an der Dahme, Köpenick)

Schöneberg: Happy Sushi

Stehtische und Tresen in edlem Nussbaum-Furnier, an den Wänden ein sanftes Hellgrün, gedämpftes Licht. Auf der Karte Maki, Nigiri, California Rolls, Tagesmenüs, Sparmenüs, es ist heiß, der Raum fast leer. Ich warte auf Maki, knabbere Krabbenchips und beobachte einen Mann Mitte 30, klein und blass, mit behaarter Brust, am Hals Goldkette mit verziertem Kreuz. Er spricht russisch in sein Smartfon, tippt verbissen drauf herum. Als sein Essen kommt, gibt er tolles Trinkgeld. Die drei deutschen Studenten zahlen auch, in ihrer Begleitung ein hübsches, englisch sprechendes Mädchen. Guckt überrascht, als alle einzeln zahlen – welcome to Berlin, Honey! Die Jungs merken nichts, woher auch, gehen schon mal raus, während die Blonde noch ihr Essen zahlt, sie haben Mühe zu warten.

Danziger II

Sonntagnachmittag: Die Trainerin sagt, wenn du jetzt noch deine Fingerspitzen und die Zehen gleichzeitig Richtung Zimmerdecke bekommst, dann hast du es geschafft. Ich denke – was? Was geschafft? Sage aber nichts. Draußen Kinder auf Skateboards. Ein Mann kotzt in den BSR-Mülleimer. Zum Glück orange, der Eimer. Sein Begleiter reißt das T-Shirt hoch, entblößt weißes Fleisch. Er lacht, die Sonne scheint.

Techno Nostalgie

Das Schloss der Bürotür ist verzogen, schließt nicht mehr richtig, der Mann vom Schlüsseldienst ist schnell da. Er kommt aus Wilhelmsruh, Jan ist sein Name, Jan und Jana, wir lachen über die zufällige Kombination unserer Namen. Jan redet: Kurz nach dem Mauerfall hat er die Techno-Clubs in Berlin durch: Fischlabor, Praxis Dr. McCoy, Walfisch, Planet, Tresor, Nontox, Matrix, und – na klar – Ostgut! Das war der heiße Scheiß damals, und er hat sie alle mitgenommen, ach so, Bunker auch, meine Fresse, ist das lange her, sagt er. Manche Kumpels von damals würden nicht mehr leben. Weggeballert. Ich nicke, sage, kenne das. Plötzlich wird die große Lebenskurve klar, von damals bis heute. Jan muss dann weiter.

Taxi nach P-Berg

Mit S. in der „Blauen Mühle“, das ist immer gut, weil Blaue Mühle, weil S., 22 Uhr dann selbst auch blau. Zehn Euro von S. geborgt, noch Geleit zum Taxi, Bussi, Gute Nacht, ab ins Auto. Der Taxifahrer, älter schon, erzählt von Panama. Dort soll es hingehen, mit der Frau, wenn es hier vorbei ist, das Berufsleben. Dort ist es billig, und man spricht auch englisch, also ok. Wenn wir die Wohnung hier verkauft haben, sagt der Mann, so in sieben, acht Jahren, dann gehen wir weg. Ich horche auf, sieben, acht Jahre Vorlauf, naja. Der Mann ist Anfang, Mitte 60. Mit „Später“ lässt er sich Zeit.

Mitte: Mitte-Girls

Sonntagmittag im Café: Zwei Frauen – Mitte Zwanzig – mit Puppengesichtern sitzen in der Sonne und trinken Chai Latte. Mit laut gestellten Stimmen reden die Mitte – Girls über den Oberarzt, den Englisch-Kurs (Oxford-Englisch!) und die Pathologie. Ob sie mit Paul zum Praktikum nach Myanmar fahre, sagt die eine, wisse sie noch nicht. Geplant sei es ja, sie hätte aber NIE gedacht, dass sie beide ausgewählt würden! Wo SIE doch eindeutig die besseren Testergebnisse hatte! sie liebe ihn schon, ja ja, aber was, gibt sie laut zu bedenken, wenn die Beziehung da unten nur stört? Schließlich wolle sie weiterkommen. Ihre Stimme ist jetzt schrill, die schöne Stirn liegt in Falten, die Freundin guckt ernst. Dann, mit einem lauten Knall, fliegen plötzlich ihre Puppenköpfe weg. Dann ist es ruhig. Die Frühlingssonne strahlt, die Bitch.

Gropiusstadt: CampDavid

Neulich erzählte mir M. von Gropiusstadt in den 90ern, und dem Camp David Trend. Als die Proll-Marke in der Platte aufkam, liefen viele Jungs ganz stolz in den Klamotten rum, vor allem samstags in der Disko. Für M. waren das „Blödmänner in Scheißklamotten“, die aber teuer waren. Deswegen taugten sie zum Statussymbol. Wir lachten, und ich stellte mir blonde Cheerleaderinnen vor, die Cola-Rum trinken mit Camp David Hengsten. Ein paar Tage später sehe ich in Prenzlauer Berg einen Mann mit Camp David Jacke. Dazu trägt er Stone-Washed-Jeans und Basecap, sein graues Gesicht ist eingefallen, er hat Mühe, sich zu halten. Es ist Sonntagvormittag, ich warte auf die Bahn, der Mann, Mitte Vierzig, wankt auf mich zu. Wahrscheinlich auf Drogen, denke ich, und wende den Blick ab, will nicht angesprochen werden. Doch er hat mich ins Visier genommen. Ob ich wüsste, wie viele Stationen es bis Paul-Heye Straße seien, ich gebe mir Mühe und zähle drei. Er bedankt sich, und meint, nach dem Insulinspritzen sei es schwer mit der Orientierung, ein Glück, dass es nicht weit sei. Ich nicke, denke Scheiß auf die Klamotten. Die Bahn kommt.

Wedding: James Franco

Zur Blauen MühleWedding, „Zur blauen Mühle“, zwei Uhr nachts. Ich bin angetrunken und stecke in einem Wort-Loop fest: Schauspieler James Franco und die Coke-Light-Werbung. Franco, der Independent-Boy von Hollywood, macht Werbung für Coke! So verlogen! Ich bin empört und erzähle es R. immer wieder, erzähle auch von dem Film, in dem James Franco den Kletterer spielt, der in einer Felsspalte stecken bleibt, und sich dann sein eines Bein abschneidet. 127 Hours. James Franco und die Werbung, James Franco und die Frauen, James Franco und das Schweinesystem. Meine Gedanken flattern weg, und ich fange wieder von vorn an. R. hört zu, jedenfalls kommt es mir so vor, der Laden ist rammelvoll mit Freaks und Vokuhilas, wir sitzen auf der Bierkühltruhe zwischen Bar und Klo. Am Tresen bedient Joy, früher Joe, im Leoparden-Top. Joy hat turmhoch toupierte rote Haare und Geburtstag, es gibt Schnäpse, Küsschen, Glückwünsche. Dann kommt einer mit blau geflochtenem Zopf und Alpendialekt, der nörgelt, weil wir auf der Kühltruhe sitzen und er nicht an die Bierflaschen rankommt, an die er aber muss, weil er ja schließlich hier arbeite, ob wir das nicht verstünden. Ich vergesse Franco, und wende mich dem Zopf zu. Dass er uns nicht belehren soll, schnauze ich, wir hätten das schon kapiert. Ich bin plötzlich so wütend. R. fragt den Typen, was er da für eine Frisur habe. „Bauernzopf“ sagt der mit eingeschnappter Stimme. In der Blauen Mühle wird jetzt eng getanzt.

Theater in Mitte

Theater, das neue Stück hat Premiere.  In der Pause treffe ich Isolde. Das Sektglas sieht gut aus in ihrer schlanken Hand an ihrem schlanken Körper. Ihre feinen Gesichtszüge werden von (fast) naturblondem, halblangem Haar eingerahmt. Isolde ist ein Hingucker im Theater, würde sie nicht reden. Doch sie redet: Sophia sei ja sooo begabt, sagt sie, das Kind habe so viele Talente, nicht nur für’s Theater, und alle gleichzeitig, und das schon mit vier! Ballett! Singen! Englisch Turnen! Isolde weiß gar nicht, wo sie „zuerst unterstützen“ soll. Und sie will auch den „natürlichen Fluss“ nicht aufhalten, das Kind soll sich ganz frei entwickeln dürfen, doch positiv steuern wär doch ok, oder? Ich kann nichts dazu sagen, doch Isoldes Begleitung weiß irgendwie Bescheid, ist jetzt bei Frühentwicklung und Feng Shui. Kindertheater wäre auch interessant. Die Pausenglocke läutet, ich nutze meine Chance, kippe hastig den Chardonnay hinter und verabschiede mich.